Ein Gedankenexperiment:
Sie beobachten eine führerlose Straßenbahn, die mit hoher Geschwindigkeit direkt auf fünf Gleisarbeiter zufährt. Da die Männer auf den Schienen mit Ohrenschützern arbeiten, bemerken sie die drohende Gefahr nicht. Sie aber wiederum stehen genau an der alles entscheidenden Weiche, und Sie hätten jetzt auch gerade noch Zeit genug um die Tram, die jetzt zur tödlichen Waffe zu mutieren droht, lebensrettend umzuleiten - und damit die Männer vor ihrem sicheren Tod zu bewahren. Bis dahin keine schwierige Entscheidungslage.
Aber: Würden Sie die Gleise auch umleiten, wenn Ihre Entscheidung einen einzelnen Arbeiter töten würde, der sich fatalerweise gerade auf dem umgeleiteten Gleis aufhält?
Dieses moralische Dilemma würden 90% der Befragten dahin gehend beantworten, dass sie lieber den Tod weniger in Kauf nehmen, um damit das Leben vieler zu retten – so die subjektive Einschätzung der Befragten. Eine aktuelle Studie des Evolutionspsychologen Navarette (2011) der Michigan State Universität ging zur Erforschung des sogenannten „Trolley-Problems“ noch einen Schritt weiter. Die knapp 300 Probanden erlebten die Entscheidungssituation computersimuliert mittels 3D-Brille.
Die Hälfte der Gruppe sollte den Knopf zur Gleisumleitung drücken können und damit den Tod einer Person bewußt in Kauf nehmen – es musste also aktiv etwas getan werden. Bei der anderen Hälfte der Probanden war kein Knopfdruck nötig, zumal der Zug schon auf das zweite Gleis mit der Einzelperson zulief. Die Ergebnisse gehen konform mit den subjektiven Einschätzungen früherer Untersuchungen: In der ersten Variante stellten 90 % der Versuchsteilnehmer die Gleise um, um die fünf Personen zu retten. Auch in der zweiten Versuchsanordnung, in welcher die Personen nichts zu tun brauchten, entschieden sich 88 % der Probanden dafür eine Person zu opfern um fünf andere zu retten.
Das „Trolley-Problem" wurde in vielen Abwandlungen untersucht, unter anderem von Judith Jarvis Thomson, einer Professorin des Massachusetts Institute of Technology. In ihrer Version des „Fetten-Mann-Problems“ spielt das Entscheidungsszenario der entgleisten Straßenbahn auf einer Brücke, anstatt am Weichenstellpunkt. Die einzige Möglichkeit die führerlose Straßenbahn zu stoppen, bestand darin einen großen, schweren Gegenstand von der Brücke auf den Straßenbahnwagen zu werfen. Das einzige zur Verfügung stehende „Objekt“ ist ein dicker Mann. Würde man den dicken Mann stoßen, um die fünf Gleisarbeiter vor dem Tod zu retten?
Jetzt würden die meisten der Befragten mit „nein“ antworten. Die Forscherin Judith Jarvis Thomson meint, dass dies der Unterschied zwischen "töten" und "sterben lassen" sei. Wer die Weiche umleitet, handelt zwar aktiv, benutzt aber keinen Menschen als Mittel zum Zweck.
Als Fazit könnte man nun die erfreuliche Erkenntnis ableiten, dass Menschen sehr wohl bereit sind sozial zu handeln, bereit sind Entscheidungen zum Wohl gefährdeter anderer zu treffen, selbst wenn sie diese garnicht kennen. Solange der Preis/das Opfer dafür, also die Verantwortungsübernahme zu Lasten des "es"/des Systems/der Situation geht. So lädt man sich ja keine Schuld auf, sondern minimiert die Opferzahl. Wenn es aber darum geht selbstverantwortlich eine Entscheidung zu treffen, wodurch man schuldig am Mord eines Menschen würde, um fünf anderen das Leben zu retten, dann sagt unser Evolutionsprogramm: Stop. Nichtstun macht einen ja nicht zum Mörder. Ist zwar schade um die fünf Opfer, aber die Schuld lag und liegt ja bei den Betreibern der Starßenbahn. Und - letztlich wäre die Justiz wahrscheinlich sowieso überfordert gewesen, die Komplexität des Geschehens zu begreifen. Somit kann man die Zauderer gut verstehen.
Quelle:
Navarette, C., McDonald, M., Mott, M. & Asher, B. (2011). Virtual morality: emotion and action in a simulated three-dimensional „trolley problem“. Emotion, 12, 364-370.
Jarvis Thomson, J. (1976). Killing, Letting Die, and the Trolley Problem. The Monist, 59, 204-17.