"Entschuldigung, könnte ich bitte kurz Ihr Handy benutzen? Dauert nur eine Minute!" Versetzen Sie sich selbst in diese Situation: Wie viele Personen müssten Sie fragen, bis Sie Ihr Telefonat führen können? Was schätzen Sie?
Drei, fünf, zehn? Wenn Ihre Schätzung in diese Richtung geht, sind Sie relativ pessimistisch eingestellt, was die Hilfsbereitschaft in unserer Gesellschaft angeht. Genauso, wie die große Mehrheit der Bevölkerung. Aber warum sind wir so pessimistisch, und liegen wir überhaupt richtig mit dieser Vermutung?
Frank Flynn, associate professor of organizational behavior an der Stanford Graduate School of Business und Vanessa Lake, Psychologin an der Columbia University, sind dieser Frage nachgegangen. In einer Reihe von Studien untersuchten sie das Phänomen Hilfeleistung und vor allem die Annahmen, die wir darüber hegen.
In einer ersten Studie wurde den Probanden dieselbe Frage gestellt wie Ihnen am Ende des ersten Absatzes: 'Was würden Sie schätzen?' Die Befragten nahmen an, dass man durchschnittlich 10 Personen bitten müsste, um 3 Gespräche führen zu können. Diese Einschätzung ist jedoch zu negativ, wie die Studie zeigt: Tatsächlich war jeder Zweite bereit, sein Handy zur Verfügung zu stellen!
In einer weiteren Studie sollte die Spendenbereitschaft bei einer Hilfsaktion für Leukämiepatienten eingeschätzt werden. Wieder waren sämtliche Prognosen zu negativ. Die Menschen, die um eine Spende gebeten worden waren, spendeten fast doppelt so häufig wie erwartet, und gaben im Durchschnitt auch deutlich höhere Beträge.
Warum wir die Hilfsbereitschaft anderer unterschätzen erklären die Forscher so: Werden wir persönlich in der Öffentlichkeit um eine Hilfeleistung gebeten, sind wir durch zwei Dinge motiviert zu helfen: Zum einen durch unsere Sozialisation, wo wir gelernt haben, Hilfsbedürftigen zu helfen. Zum anderen aber durch 'sozialen Druck': Wir haben Angst davor, in der Öffentlichkeit schlecht dazustehen und wollen nicht, dass uns andere für unsozial halten. Genau diese zweite Motivation kommt aber nicht auf, wenn wir nur Vermutungen darüber anstellen sollen, wer wann wie oft hilft.
Die Hypothese der Forscher wurde empirisch bestätigt: Passanten sollten dazu angehalten werden einen Fragebogen auszufüllen. Dies geschah einmal sehr persönlich, indem sie direkt angesprochen wurden. Der Kontrollgruppe wurde der Fragebogen einfach kommentarlos ausgehändigt. Das Ergebnis: In der ersten Gruppe war fast jeder zweite bereit den Fragebogen auszufüllen, bei der kommentarlosen Übergabe dagegen nur jeder Fünfzehnte!
Also, wenn Sie das nächste Mal Hilfe brauchen, zögern Sie nicht und fragen Sie! Auch wenn der Gefragte vielleicht keine Lust hat, er wird helfen, weil er nicht als Egoist dastehen will. Und wenn Sie ganz dringend Hilfe benötigen: Sorgen Sie zunächst für etwas Publikum und bitten Sie anschließend eine bestimmte Person direkt um Hilfe. Damit haben Sie für sozialen Druck gesorgt und dafür, dass sich der Gefragte persönlich verantwortlich fühlt, falls er Ihnen die Hilfeleistung verweigert.
gepostet i.A. von Dr. Stephan Lermer
Quelle: Flynn, F. J., Lake, V. K. (2008): If you need help, just ask: Underestimating compliance with direct requests for help. Journal of Personality and Social Psychology, 95/1: pp. 128-143.